Obergraben 10: Synagoge – Bunker – Aktives Museum Südwestfalen

David Schäfer

Die Adresse „Am Obergraben 10“ löst zunächst sehr wenige oder gar keine Assoziationen aus. Der Grund für die neutrale Benennung dieses Siegener Erinnerungsortes liegt darin, dass sich hinter der Adresse mehrere Erinnerungsorte verbergen, die in unterschiedlichem Maß und in verschiedenen Kontexten eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, beziehungsweise Gegenwart und Geschichte herstellen.

Die historische Dimension des Ortes ist heute nur bedingt offensichtlich. Das Gebäude oberhalb des Löhrtors – ein Luftschutzbunker, der auf dem Fundament der zerstörten Siegener Synagoge errichtet wurde – fügt sich scheinbar nahtlos in das Ensemble der umliegenden Bauten ein und ist nicht auf den ersten Blick als ‚historisch‘ erkennbar. Darauf verweisen jedoch mehrere Schilder und Gedenkplaketten, welche die historische Funktion und Bedeutung des Grundstücks am Obergraben chronologisch auflisten:

Die Geschichte des Ortes als Grundstück, auf dem die Siegener Synagoge stand, wird durch ein großformatiges Bild des Gotteshauses an der Fassade des Bunkers und eine Gedenkplakette hervorgehoben. Der Platz vor dem Eingang heißt zudem „Platz der Synagoge“, worauf ein Straßenschild hinweist. In der Bevölkerung wird diese Ebene der Geschichte des Ortes auch am ehesten mit dem Gebäude assoziiert. Für viele ist der Ort mehr als nur der ehemalige Standort eines Gotteshauses, sie sagen vielfach: „Das hier ist die Synagoge“ – die Synagoge wird so zu einem konkreten Erinnerungsort, obwohl von ihr nichts übrig ist.

Der bis heute erhaltene Luftschutzbunker dagegen wird vor allem mit den Luftangriffen auf Siegen durch die Alliierten, speziell dem Bombenangriff auf Siegen am 16. Dezember 1944, assoziiert. Somit verweist der Obergraben 10 auch auf einen abstrakten Erinnerungsort, nämlich ein historisches Ereignis.

Heute befindet sich im Erdgeschoss des Gebäudes das Aktive Museum Südwestfalen. Dort werden die Geschichte der jüdischen Gemeinde der Stadt und des Kreises sowie die Verfolgung und Vernichtung weiterer Minderheiten im Nationalsozialismus in der Region an der oberen Sieg dokumentiert. Da sich das Aktive Museum im Laufe seines zwanzigjährigen Bestehens zu einer wichtigen Stätte der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten der Stadtgeschichte und damit auch der eigenen Geschichte entwickelt hat, kann es gleichfalls als Erinnerungsort verstanden werden.

Sachgeschichte

Die Synagoge

Ansicht der Synagoge

Seit der ersten belegbaren Erwähnung von Juden im Siegerland im 13. Jahrhundert haben sich bis ins späte 19. Jahrhundert stets nur einzelne Personen oder Familien jüdischen Glaubens in der Region niedergelassen. Dies änderte sich, nachdem die Region 1861/62 durch die Eisenbahn von Hagen über Siegen nach Frankfurt/M. sowie von Köln nach Siegen erschlossen worden war und einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erfuhr. 1880 lebten bereits über 190 Personen jüdischen Glaubens im Siegerland. Ihre Gottesdienste vollzog die jüdische Gemeinde lange in eigens dafür angemieteten Räumen, jedoch kaufte der Vorsitzende des damaligen Siegener Synagogenvorstandes bereits 1891 das Grundstück am Obergraben mit der Absicht, hier eines Tages eine Synagoge zu errichten.

Die Pläne zur Errichtung der Siegener Synagoge wurden kurz nach der Jahrhundertwende realisiert. Die Grundsteinlegung erfolgte am 23. Juli 1903 und schon im Herbst desselben Jahres konnte das Richtfest gefeiert werden. Das Gotteshaus wurde am 22. Juli 1904 eingeweiht.

Richtfest der Synagoge

Der Einweihungszeremonie wohnten jedoch weder der damalige Siegener Bürgermeister Anton Delius noch Geistliche der christlichen Konfessionen bei. Letztere entschuldigten sich durch „anderweitige Inanspruchnahme“.1)

Der prominente Standort der neuen Synagoge nahe der mittelalterlichen Stadtmauer in der Oberstadt versinnbildlichte zugleich ein neues Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde. Zwar war bekannt, dass zahlreiche Geschäfte in der Oberstadt von Jüdinnen und Juden betrieben wurden, jedoch war die Gemeinde durch das große Gotteshaus erstmals öffentlich repräsentiert. Architektonisch war der Bau ein klares Bekenntnis zum Siegerland. So wurde die Synagoge 1922 in Abgrenzung zur Kirche St. Michael wie folgt beschrieben: „Im Gegensatz zu der vorgenannten Kirche hat […] der Architekt versucht, heimische Klänge anzuschlagen. Geschieferte Giebel und eine geschieferte Kuppel reihen mit gutem Glück das Gebäude wirkungsvoll in das vom Schiefer beherrschte Stadtbild ein.„2)

Neben dieser wohlwollenden Beurteilung war die Synagoge jedoch auch Ziel des stärker werdenden Antisemitismus. So wurde im Jahr 1920 eine neu geschaffene Gedenktafel für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen Mitglieder der Synagogengemeinde in der Nacht vor der Enthüllung mit Parolen beschmiert.

Zerstörung der Synagoge

Die weit überwiegende Mehrheit der Siegener Juden konnte als „einheimisch” bezeichnet werden, wie Klaus Dietermann hervorgehoben hat. Sie waren „geachtete Bürgerinnen und Bürger dieser Region, sie sprachen das Siegerländer Platt, waren Mitglieder in den örtlichen Vereinen, sie dachten und wählten zumeist national-konservativ.“3) Sie alle bekamen die Machtübertragung an die Nationalsozialisten unmittelbar zu spüren. Das gilt besonders für diejenigen jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die in Handel und Gewerbe tätig waren. Trotz der enormen religionsübergreifenden Popularität jüdischer Geschäfte und Metzgereien in der Region, wurde auch in Siegen zu dem reichsweiten Boykott am 1. April 1933 aufgerufen, welchen die Siegener Juden durch eine Schließung ihrer Geschäfte unterliefen. Zwischen 1933 und 1938 wurden zudem sämtliche jüdischen Betriebe und Geschäfte sukzessive „arisiert“, d.h. die Nationalsozialisten brachten die Besitzer durch Zwang und Drohungen zum Verkauf ihres Eigentums – in der Regel weit unter Wert.

Auch nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze im September 1935 verblieben die meisten Siegener Juden vor Ort. Viele hielten den zunehmenden Judenhass für eine vorübergehende Erscheinung; Angst und Schrecken waren bei den meisten noch nicht so groß, als dass man aus diesem Anlass die Heimat verlassen hätte.

Als endgültige Zäsur für das jüdische Leben in Siegen ist die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 zu sehen. Im gesamten Deutschen Reich sollte sich in jener Nacht scheinbar der „Volkszorn“ über die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen jungen Mann jüdischen Glaubens entladen. Die Maßnahmen gegen die Juden in Siegen begannen bereits am 9. November mit der Verhaftung aller jüdischen Männer. Der Brandanschlag auf die Synagoge jedoch wurde erst am Mittag des 10. November verübt, also etwas später als in den meisten anderen deutschen Städten. Der Grund dafür ist letztlich nicht genau benennbar. Aus Prozessakten geht hervor, dass der Verantwortliche, SS-Hauptsturmführer Heinrich Lumpe, von der Existenz der Siegener Synagoge nichts gewusst habe. In der Rückschau gilt es jedoch als unwahrscheinlich, dass ein SS-Mann in dieser Position nicht über Kenntnis eines jüdischen Gotteshauses in „seiner“ Stadt verfügte. Am Morgen des 10. November erhielt Lumpe einen Anruf seines Vorgesetzten, des SS-Standartenführers Hermann Florstedt. Dieser erteilte den Befehl, die Synagoge niederzubrennen. Lumpe informierte umgehend Polizei und Feuerwehr und befahl einigen SS-Männern, sich zwischen 11:30 und 12:00 Uhr in Zivil an der Synagoge zu treffen und diese in Brand zu setzen.

Brand des Gebäudes am 10. November 1938

Die große Menge Schaulustiger war für die Mittagsstunde wenig überraschend, allerdings ist lediglich eine Stimme des Protestes überliefert. Ansonsten sahen die Menschen schlichtweg zu, wie die Synagoge unter der Kontrolle der Feuerwehr vollständig abbrannte.

Über den Brand wurde in verschiedenen Siegener Zeitungen berichtet, der Grundtenor war in der gleichgeschalteten Presse jedoch durchweg triumphal. Die „Siegerländer-National-Zeitung“ schrieb: „Der Judastern ist gefallen. Nie wieder wird er aufgerichtet.“4) Tatsächlich wurde die Synagoge nach dem Krieg nicht wiederaufgebaut. Von den Siegener Jüdinnen und Juden, die den Völkermord der Nazis überlebten, kehrten nur sehr wenige in ihre Heimatstadt zurück.

Luftschutzbunker und Gedenkstätte

Nachdem die Trümmer der Synagoge auf Kosten der jüdischen Gemeinde abgetragen worden waren, kaufte die Stadt Siegen das Grundstück am Obergraben 10. Im Rahmen der massiven Luftschutzmaßnahmen der Stadt wurde dort 1941 ein Hochbunker mit einer Kapazität von 471 Personen errichtet. Er sollte primär Patienten und Personal des angrenzenden Stadtkrankenhauses Schutz vor Bombenangriffen der Alliierten bieten und ist daher an das ehemalige Krankenhausgebäude angeschlossen. Nach Ende des Krieges wurden zahlreiche Räume des Bunkers durch das Krankenhaus weiter genutzt, beispielsweise als Aktenlager. Die historische Bedeutung des Ortes als ehemaliger Standort der Synagoge war nicht ohne Weiteres erkennbar. Dies änderte sich erst mit der Einrichtung einer Gedenkstätte am Eingang des Bunkers. Außerdem erinnert eine Tafel an die Zerstörung des Gotteshauses. Seit 1965 findet dort jedes Jahr am Jahrestag des Pogroms eine Gedenkveranstaltung statt. 1978 wurde das Eingangstor in Form einer Menorah umgestaltet und ein Kranzhalter angefertigt. Dieses Tor ist heute der Eingang zum Aktiven Museum Südwestfalen, welches die Geschichte des Ortes, der jüdischen Gemeinde in Siegen und die Zeit des Nationalsozialismus in der Region dokumentiert.

Tor in Form einer Menorah

Aktives Museum Südwestfalen

Die Idee, in den Räumlichkeiten des Bunkers neben der oben angesprochenen Gedenkstätte eine Ausstellung unterzubringen, geht bis in das Jahr 1991 zurück. Damals wurden im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum Brand der Synagoge drei Bunkerzellen zu einer improvisierten Ausstellung hergerichtet. Kurz darauf kam es zu ersten Gesprächen und Planungen mit dem Ziel, aus dem Bunker am Obergraben ein Museum zu machen. Nachdem der Kreis als Besitzer des Gebäudes die Herausgabe von sechs Zellen zur musealen Nutzung zugesagt hatte, gründete sich am 30. Januar 1995 der Verein „Aktives Museum Südwestfalen e.V.“, der bis heute als Träger des Museums fungiert. Am 10. November des darauffolgenden Jahres eröffnete das Museum und verzeichnete in den ersten Wochen seines Bestehens hohe Besucherzahlen. Der Schwerpunkt der Ausstellung lag damals wie heute auf dem Thema „Jüdisches Leben in Siegen“.

Eröffnung des Aktiven Museums 1996.

Nachdem kurz vor der Jahrtausendwende die Nutzbarmachung der gesamten unteren Etage angekündigt wurde, erweiterte sich die Ausstellung um weitere Exponate und thematische Schwerpunkte, wie beispielsweise andere Opfergruppen oder Personen des Widerstands. Die notwendigen Baumaßnahmen wurden 2001 abgeschlossen.

Räumlichkeiten des Museums

Nachdem kurz vor der Jahrtausendwende die Nutzbarmachung der gesamten unteren Etage angekündigt wurde, erweiterte sich die Ausstellung um weitere Exponate und thematische Schwerpunkte, wie beispielsweise andere Opfergruppen oder Personen des Widerstands. Die notwendigen Baumaßnahmen wurden 2001 abgeschlossen.

Seit 2017 sind umfangreiche bauliche und konzeptionelle Erweiterungen auf dem Weg. Danach wird das Aktive Museum die beiden unteren Etagen des Bunkers vollständig umfassen. Der Raum für die Dauerausstellung wird durch Platz für Sonder- und Wechselausstellungen ergänzt, zudem wird ein Seminarraum die ohnehin enge Kooperation mit Schulen in der gesamten Region sowie der Universität Siegen zusätzlich stärken. Das Aktive Museum kann so seiner wichtigen Rolle als außerschulischer Lernort noch besser gerecht werden.

Als „aktiv“ versteht sich das Museum in seiner Rolle als Ort der Aufarbeitung und Erforschung der NS-Geschichte in der Region. Als Institution gegen eine „Schlußstrich-Mentalität“ sah sich das Museum bereits während seiner Konzeption 1996. Heute nimmt es diese Rolle wahr, indem Führungen und alternative Stadtrundgänge für Schulklassen und andere Interessenten angeboten werden. Zusätzlich ist das Museum wichtige Anlaufstelle für Forschungsprojekte zum Thema Judentum und Nationalsozialismus im Siegerland.

Erinnerungskulturelle Debatten

Die erinnerungskulturelle Vielschichtigkeit des Gebäudes ist vielen Siegenerinnen und Siegenern nicht vollständig bewusst. Die Ergebnisse einer im Sommer 2016 durchgeführten Straßenumfrage deuten darauf hin, dass der Obergraben 10 den meisten Einheimischen als (ehemaliger) Standort der Synagoge bekannt ist. Dies ist vermutlich auch auf die großformatige Abbildung der Synagoge an der Fassade des Bunkers zurückzuführen. Nur ein geringer Teil der Befragten wusste darüber hinaus um die Umstände, die zu ihrer Zerstörung führten. Weniger spezifisch wird der Ort in seiner Bedeutung als Luftschutzbunker wahrgenommen. Die Geschichte des konkreten Bunkers am Obergraben vermischt sich mit den übergeordneten Bedeutungsebenen Luftschutz und Bombenkrieg. Das Museum wird erstaunlicherweise in wenigen Fällen mit dem Ort selbst in Verbindung gebracht. Es zeigte sich, dass die Doppelrolle Museum–Gedenkstätte von verhältnismäßig wenigen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wird. Ausnahmen bilden dabei Personen, die das Aktive Museum bereits besucht haben oder einen Besuch planen. Hinsichtlich der Rolle des Aktiven Museums in der regionalen Museumslandschaft Siegens wurde festgestellt, dass es deutlich hinter das Siegerlandmuseum und das Museum für Gegenwartskunst zurücktritt.

Quellen

Meinungen der Nutzerinnen und Nutzer

1)
Vgl. Siegener Zeitung, 24.07.1904.
2)
Stadt Siegen (Hg.): Deutschlands Städtebau, Siegen und das Siegerland. Bearb. von Stadtbaurat Scheppig, Berlin 1922, S. 21.
3)
Klaus Dietermann: Die Siegener Synagoge. Vom Bau und der Zerstörung eines Gotteshauses, Siegen: Verlag der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. 1996, S. 17.
4)
Siegerländer-National-Zeitung vom 11.08.1938.
orte/synagoge_-_aktives_museum_suedwestfalen.txt · Zuletzt geändert: 2020/12/17 13:42 von redaktion