Das Kriegerdenkmal für die Reichseinigungskriege befindet sich heute in der Siegener Oberstadt, direkt neben der Nikolaikirche. Es wurde am 16. August 1877 feierlich enthüllt. Bis 1892 stand das Kriegerdenkmal am unteren Marktplatz. Entwurf und Ausführung stammten von dem bekannten Siegener Bildhauer Friedrich Reusch (1843-1906). Das Kriegerdenkmal repräsentiert den Sieg Deutschlands über Frankreich im Jahr 1870/71 sowie die darauf folgende monarchisch-demokratische Vereinigung des Deutschen Reiches.
Stilistisch ist das Kriegerdenkmal dem Historismus zuzuordnen. Architektonisch handelt es sich bei dem Bauwerk um neuzeitliche Nationalarchitektur. Das Hauptelement des Denkmals ist die Germania, die, in Form einer Freiplastik, eine für die Zeit typische Personifikation darstellt. „Germania“, die Mutter der Deutschen, thront auf einem Postament. Ihr fester Blick ist auf die fernen Hügel des Siegerlandes gerichtet. Das Haar ist mit Eichenlaub bekränzt. Die linke Hand hält ein zu Boden gerichtetes Schwert, die rechte umklammert einen Siegerkranz. Germanias stolzes Gesicht erinnert an Feldherren der römisch-griechischen Antike. Genau wie ihr Gewand, das wie eine altgriechische Tunika ihren kräftigen Leib bedeckt.
Wandert der Blick an ihrem Gewand herunter, so bleibt er unweigerlich an Germanias rechtem Fuß hängen. Dieser ist auf einem Kanonenrohr positioniert – eine eindeutige Pose der Unterdrückung. Doch was unterdrückt Germania? Die Einschneidungen auf dem Kanonenrohr geben darüber Aufschluss: Die Krone und das große „N“ sind Kaiser Napoleon III. von Frankreich zuzuordnen. Die Unterjochungs-Geste bezieht sich also auf die Nation Frankreich. Um den Sieg der Deutschen und die Unterjochung des französischen Erbfeindes nun gänzlich im Bildgedächtnis des Betrachters und der Betrachterin zu manifestieren, hockt zudem ein Reichsadler mit riesigen Krallen und gespreizten Flügeln auf dem französischen Kanonenrohr. Die Botschaft ist eindeutig: Die Deutschen haben die Franzosen nicht nur vernichtend geschlagen, sie sichern zudem den Frieden. Die französischen Waffen sind unschädlich gemacht worden und werden von den deutschen Genien bewacht. Die junge Nation Deutschland kann sich nun ganz auf ihre friedvolle Vereinigung fokussieren.
Das viereckige Postament zeigt auf vier Tafeln die Namen von Gefallenen aus den Schlachten der Reichseinigungskriege. Die Ecken sind mit Plastiken deutscher Militärhelme verziert, welche die verschiedenen Truppengattungen im preußischen Heer repräsentieren.
Das Kriegerdenkmal repräsentiert den Denkmaltypus des Nationalmonuments, der vor, während und nach der Reichsgründung 1870/71 einen regelrechten „Bauboom“ erfuhr. Da Denkmäler stets im öffentlichen Raum wirken, zielen ihre Bildgegenstände auf ein kollektives Bildbewusstsein. Dieses wurde im Fall der Nationalmonumente im Kaiserreich durch euphemistisch-prunkvoll inszenierte Symbolik traditionsbewusst und altehrwürdig eingesetzt. Die Berufung auf alte Werte und Tugenden, die im Kriegerdenkmal zum Beispiel in Form der antikisierenden Tracht der Germania oder dem Reichsadler wiedergegeben werden, verbindet im Glanz der Umbrüche auf politischer Ebene Staatliches und Künstlerisches, Politik und Lebenswelt. Eine Inszenierung der Politik im öffentlichen Raum manifestierte und legitimierte so die Herrschaft und die daran gebundenen Taten der Herrschenden. Die Germania als Personifikation der deutschen Nationalidee bot sich für diesen Zweck besonders an. So wurden während des „Baubooms“ zahlreiche Germania-Denkmäler in deutschen Städten errichtet. Germania repräsentierte, manifestierte und legitimierte den ideologischen Umbruch, der auf nationaler Ebene stattfand, und vermittelte diesen von Berlin bis in die Provinz.
Die Darstellung der Siegener Germania zeigt dabei den abgeschlossenen Prozess eines symbolträchtigen Bildes. Die Personifikation der Germania, einst Symbol für die oppositionelle Nationalbewegung 1848, durchlief, genau wie die spätere Nation, die sie repräsentierte, eine Entwicklung. Vergleicht man die Siegener Germania mit früheren Darstellungen (s. in etwa Düsseldorfer Malerschule), so zeigt sich im Besonderen in ihrem Gemütszustand eine starke Veränderung. War die Germania, die 1848 die oppositionelle Revolution verkörperte, eher mit einer wütenden, rebellierenden, kampfbereiten Walküre zu vergleichen, die sich aus den Ketten der konservativen Politik befreien wollte, so ist die Germania, die von ebendiesen konservativen Politikern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Symbol der Reichseinigung genutzt wird, eine befriedete, umsorgende, gelassene Siegerin, die sich nichts mehr beweisen muss. Während des 19. Jahrhunderts durchlebte die Darstellung der Germania also einen den innen- und außenpolitischen Ereignissen entsprechenden Prozess: Die Revolutions-Germania, die wütend die Reichsidee verteidigte, entwickelte sich zu einer Wächterin, die nach und durch die Reichsgründung unter dem proklamierten deutschen Kaiser Wilhelm I. fortan nur noch auf die entschärften Waffen der Erbfeinde aufpassen muss.
Die Germania, als Personifikation der deutschen Nation, wurde benutzt, um den Herrschaftsanspruch des neuen deutschen Kaisers zu legitimieren und seine Macht zu manifestieren. Der öffentliche Raum der Innenstädte fungierte dabei wie eine Werbetafel: Zahlreiche Monumente, die die Herrschenden und ihre Ideologien bildlich wiedergaben, repräsentierten ebendiese bis in die entlegensten Ecken des Landes. Das war im 19. Jahrhundert auch notwendig. Die Herrschaft konnte nicht im gesamten Reich Präsenz zeigen, ihre Bilder aber schon. Auch in Siegen wurde mit und durch sie die Macht des Kaisers in den Alltag der Menschen gebracht. Insgesamt drei Bauwerke wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Innenstadt errichtet: die Germania, ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal (1892) sowie ein Bismarck-Denkmal (1900). Die letzten beiden waren aus Bronze gefertigt und wurden während des Zweiten Weltkrieges zu Kanonenrohren weiterverarbeitet.
Damit Bilder eine Wirkung auf den Betrachter oder die Betrachterin haben, müssen jene sie auch lesen und sich mit ihnen identifizieren können. Das heißt, ihre Symbolkraft kann sich nur entfalten, wenn die Symbolik auch verstanden wird und bei dem Betrachter oder der Betrachterin ein Gefühl evoziert. Bei der Siegener Germania werden zwei Gefühle angesprochen: Das Nationalgefühl, das die Siegerländer und Siegerländerinnen ihrer Nation gegenüber entwickelten, sowie ein Regionalgefühl, über das sie sich zunächst erstmal als Siegerländer und Siegerländerinnen und dadurch als Deutsche verstanden. Diese Art der Zugehörigkeit zu Region und Nation durchlief während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung, die sich wechselseitig vorantrieb. Das Siegerland, das sich über seine Bergbautradition und den dazu gehörenden Tugenden wie Bereitschaft zu schwerer, körperlicher Arbeit, Fleiß und Ausdauer definierte, fühlte sich hier natürlich auch auf nationaler Ebene bestätigt: Der „Deutsche an sich“ sollte doch genau diese, dem Siegerland inhärenten, Stärken verkörpern. Das Siegerland war deutscher als der Deutsche. Der Siegerländer lebte Bismarcks Motto vom Blut, wovon die Namen der Gefallenen in den Schlachten der Reichseinigungskriegen kündeten, und das Siegerland lieferte das dazugehörige Eisen. Dieses Zugehörigkeitsgefühl wurde in der jungen Nation identitär. Die Siegerländer und Siegerländerinnen partizipierten also nicht nur an dem Konzept der Nationalität und Regionalität, vielmehr definierte, konstruierte und stabilisierte ihre Zugehörigkeit zu ebendiesem Konzept ihre Identität. Eine Partikularität wurde durch einen Universalismus ersetzt, der die Region und die Nation „von unten“ schuf und aufrechterhielt. Die Siegener Germania wird so zu einem Symbol für die nationale Obrigkeitstreue der Siegerländerinnen und Siegerländer, die sich durch die Berufung auf regionale Tugenden legitimierte. Passenderweise wurde das Nationaldenkmal von Bürgern und Bürgerinnen der Stadt finanziert.
Im Jahr 2015 stellte die Fraktion der Partei „Die Linke“ den Antrag, das Kriegerdenkmal auf das Areal des Oberen Schlosses umzusiedeln. Das Kriegerdenkmal repräsentiere, so „Die Linke“, eine undemokratische und gewalttätige Reichsgründungszeit, mit der sich die Stadt politisch wie ideologisch nicht mehr identifizieren könne. Der Antrag wurde kontrovers rezipiert.
2018 diskutierte die Stadt darüber, das teils marode Denkmal zu sanieren. Dazu sollte Germania ihr Postament verlassen und freistehend auf der Anlage installiert werden. Bisher bleibt die Germania aber in ihrer gewohnten Form an gewohnter Stelle ein Treffpunkt für große und kleine Siegener und Siegenerinnen.
Auszug aus „Die Feier der Enthüllung des Kriegerdenkmals in Siegen, verbunden mit dem 1. Verbandsfest der Krieger-Vereine“ – Publikation von C. Buchholz (Siegen: Selbstverl.) über die Enthüllungsfeier des Kriegerdenkmal vom 16.08.1877. (Gesamtwerk: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/8446966; aufgerufen am: 13.08.2021)
Auszug aus „Die Feier der Enthüllung des Kriegerdenkmals in Siegen, verbunden mit dem 1. Verbandsfest der Krieger-Vereine“ – Publikation von C. Buchholz (Siegen: Selbstverl.) über die Enthüllungsfeier des Kriegerdenkmal vom 16.08.1877. (Gesamtwerk: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/8446966; aufgerufen am: 13.08.2021)
Niederschrift über die die 3. Sitzung des Kulturausschusses vom 21.04.2015