Am Samstag, dem 16. Dezember 1944 ereignete sich der erste große Luftangriff der Alliierten auf Siegen. Bei dem nur wenige Minuten andauernden Bombardement wurde die Siegener Altstadt beinahe völlig zerstört und 348 Menschen kamen ums Leben, darunter 32 ausländische Gefangene, die in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Das Ereignis hat als Tragödie Eingang in die Stadtgeschichte sowie das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung gefunden und ist bis heute Gegenstand erinnerungskultureller Debatten.
Schon Mitte der 1930er Jahre hatte man erkannt, dass Siegen als Eisenbahnknotenpunkt, Standort kriegswichtiger Industrie und Garnisonsstadt (seit 1936), die Infanterie- und Artilleriekasernen beherbergte, im Falle eines Krieges in besonderem Maße durch Luftangriffe bedroht sein würde. Daher wurden schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs unter der Regie des Siegener Oberbürgermeisters Alfred Fißmer (1878-1966) umfangreiche Luftschutzmaßnahmen durchgeführt.
So richtete man ab 1937 öffentliche Sammelschutzräume ein und es trat eine Anordnung in Kraft, die für jedes neu errichtete Gebäude einen Luftschutzraum vorschrieb. Ein aus Polizei, Feuerwehr, Technischer Nothilfe und Deutschem Roten Kreuz rekrutierter Sicherheits- und Hilfsdienst sollte sich im Falle eines Angriffs um die Versorgung der Opfer und die Beseitigung der Zerstörungen kümmern.
Nach Kriegsbeginn wurden die Luftschutzmaßnahmen eilig weiter vorangetrieben. Im Jahr 1940 folgte der Bau von insgesamt sechzehn oberirdischen Hochbunkern, die noch heute zu sehen sind, etwa an der Höhstraße oder am Obergraben. Auch unter der Erde wurden durch den Um- und Ausbau alter Bergwerksstollen Schutzräume geschaffen. Um den englischen und amerikanischen Flugzeugen die Zielfindung zu erschweren, waren nachts sämtliche Lichtquellen der Stadt verdunkelt.
Vorerst jedoch blieben Siegen und seine Umgebung vom Bombenkrieg weitgehend verschont. Während das Rheinland und das Ruhrgebiet bereits seit 1940 heftig bombardiert wurden, kam es hier nur zu vereinzelten kleineren Angriffen, etwa am 16. Mai 1940 in Niederschelden oder am 5. Oktober 1942 in Siegen. Erst ab 1944 war das südliche Westfalen in zunehmendem Maße von Bombenangriffen betroffen. Am 2. März 1944 erlitt die Siegerländer Gemeinde Neunkirchen einen heftigen Angriff, der 69 Menschenleben forderte. Wenige Monate später, am 17. September 1944, gab es auch in Siegen die ersten Bombentoten zu beklagen. Alliierte Jagdbomber griffen den Bahnhof und die Eisenbahnwerkstatt an und trafen dabei auch einige Gebäude in der Umgebung, wobei sechs Menschen ums Leben kamen.
Am Samstag, dem 16. Dezember 1944 kam es schließlich zum ersten schweren Bombenangriff auf Siegen. Um 14:45 Uhr wurde Fliegeralarm ausgelöst, doch da der Klang der Sirenen für die Bevölkerung im mittlerweile sechsten Kriegsjahr schon längst Teil des Alltags war und die alliierten Bomberverbände Siegen bisher verschont hatten, versäumten viele es zunächst, Schutz zu suchen. Als um 14:53 Uhr jedoch akute Luftgefahr vermeldet wurde, bestand kein Zweifel mehr, dass ein Angriff bevorstand. Kurz nach 15 Uhr war der englische Verband aus 92 viermotorigen Bombern vom Typ Lancaster über Siegen und lud seine Bomben ab. Das Bombardement dauerte nur wenige Minuten, verursachte jedoch enorme Schäden in der bislang weitgehend unzerstörten Stadt. Der Angriff forderte 348 Menschenleben, ohne die umfangreichen Luftschutzmaßnahmen wäre die Zahl der Toten und Verletzten jedoch vermutlich weit höher ausgefallen.
Der 16. Dezember stellte den Auftakt für eine Reihe weiterer Luftschläge dar. Der zweite Großangriff ereignete sich am 1. Februar 1945. 282 Flugzeuge griffen die Region an, wobei sowohl Siegen als auch die Ortschaften Kaan-Marienborn, Flammersbach und Gernsdorf schwer getroffen wurden. 176 Menschen kamen ums Leben. Wenige Wochen vor der Befreiung Siegens durch amerikanische Truppen, am 12. März, folgte schließlich der dritte und letzte schwere Luftangriff mit 69 Todesopfern.
Zwischen Januar und März 1945 wurde Siegen sechsmal bombardiert, daneben kam es zu zahllosen Vorfällen, bei denen einzelne Flugzeuge Bomben abwarfen oder die Stadt mit Bordwaffen beschossen.1) Am Ende des Kriegs wiesen über 4000 Gebäude in Siegen Bombenschäden auf, die Stadt lag fast vollständig in Trümmern. Insgesamt forderten die alliierten Luftangriffe auf Siegen 715 Todesopfer.
Zum Zeitpunkt des Luftangriffs auf Siegen befand sich die deutsche Wehrmacht an allen Fronten in der Defensive. Sie hatte sich aus den ehemals besetzten westeuropäischen Gebieten weitgehend zurückziehen müssen und hielt nur noch einen kleinen Teil der Niederlande besetzt. In dem verzweifelten Bemühen, den Vormarsch der alliierten Truppen aufzuhalten, setzte die nationalsozialistische Führung auf die sogenannten „Vergeltungswaffen“. Dabei handelte es sich um Flugbomben mit Düsenantrieb („V1“) und Raketen („V2“), welche vom Gebiet des Deutschen Reiches aus auf weit entfernte, hauptsächlich belgische und britische Städte abgefeuert wurden. Koordiniert wurden die Einsätze der „Vergeltungswaffen“ von speziellen Kommandoständen aus. Eine dieser Leistellen war im Dezember 1944 im Kulturamt am Hermelsbacher Weg in Siegen untergebracht. Diese Tatsache war auch den alliierten Nachrichtendiensten bekannt und könnte zur Entscheidung, Siegen anzugreifen, beigetragen haben.
Von Siegen aus wurde am 16. Dezember 1944 ein Angriff gegen das belgische Antwerpen befohlen. Britische Truppen hatten die Stadt am 4. September 1944 befreit. Aufgrund ihres Seehafens, der von strategischer Bedeutung für die alliierten Nachschublinien war, wurde sie zum Ziel der deutschen Fernwaffen. Um 15:20 Uhr, beinahe zeitgleich mit dem britischen Angriff auf Siegen, ging eine V2-Rakete auf Antwerpen nieder und schlug in das vollbesetzte „Rex“-Kino ein. 561 Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben, 291 wurden schwer verletzt.
Der 16. Dezember 1944 nimmt im kollektiven Gedächtnis der Region einen besonderen Platz ein, obwohl Siegen auch später mehrfach bombardiert wurde und im April des Jahres 1945 Schauplatz heftiger Kampfhandlungen war.
Die erste öffentliche Veranstaltung zur Erinnerung an den Angriff vom 16. Dezember fand an dessen sechstem Jahrestag im Jahr 1950 statt. Ein Trauerzug zog auf den Siegener Marktplatz, wo eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer abgehalten wurde. Auch in den Folgejahren hielten die Bürgerinnen und Bürger der Stadt am 16. Dezember Gedenkstunden für die Opfer von Krieg, Gewalt und Terrorherrschaft auf dem Marktplatz ab.
Im Rahmen der Gedenkveranstaltung des Jahres 1954 wurde die im Krieg teilweise zerstörte und zwischenzeitlich wieder hergestellte Nikolaikirche eingeweiht. In einem Zeitungsartikel hieß es, „die Mühen des schwierigen Wiederaufbauwerks“ seien mit der Einweihung des Gotteshauses „symbolisch gekrönt“ worden.2)
Die Formulierung verrät, dass man auf den Wiederaufbau der Stadt sehr stolz war. Allerdings herrschte auch schon ein Bewusstsein für die historischen Hintergründe der alliierten Luftangriffe. So wurde in der Kirchenpredigt anlässlich des Festakts davor gewarnt, die Schuld für die Zerstörung Siegens ausschließlich den ehemaligen ‚Feindmächten‘ zuzuschieben. Das Gedenken an den 16. Dezember 1944 stand also schon früh im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Krieg und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft.
Parallel zur Etablierung der jährlichen Gedenkstunden auf dem Marktplatz wurde ab 1951 in Bevölkerung und Verwaltung der Ruf nach einer Gedenkstätte für die Opfer der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus laut. Eine eigens gegründete private Arbeitsgemeinschaft verlieh dieser Forderung zusätzlich Nachdruck.
Im Oktober 1954 beschloss der Rat der Stadt, im Dicken Turm des Unteren Schlosses „für die Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs“ – so der Wortlaut des Ratsbeschlusses – eine Gedenkstätte mit Glockenspiel einzurichten. Auch die Landesregierung, in deren Besitz sich das Untere Schloss befand, erteilte im folgenden Jahr ihre Zustimmung, sodass der Ausbau der Gedenkstätte am 1. April 1959 beginnen konnte. Über dem Eingang wurde der Schriftzug „Verweile – Gedenke“ angebracht. Zusätzlich erinnerte die Bronzeplastik „Die Ausschauende“ des Weidenauer Bildhauers Hermann Kuhmichel (1898-1965) an den Wunsch nach Frieden und der Rückkehr deutscher Kriegsgefangener. Am 16. Dezember 1959, dem 15. Jahrestag des Angriffs, folgte die offizielle Einweihungszeremonie. Von da an fanden die jährlichen Gedächtnisveranstaltungen zum 16. Dezember stets an der Gedenkstätte im Dicken Turm statt, zumeist wurde dabei das Glockenspiel geläutet und ein Kranz niedergelegt.
Nachdem das Ziel der Errichtung einer Gedenkstätte am Dicken Turm erreicht war, rückte das Gedenken an den Luftangriff etwas in den Hintergrund. Zwar erschienen in der lokalen Presse jährlich Artikel, die sich mit der Wiederkehr des Angriffs befassten, doch waren sie weder sonderlich umfangreich noch prominent platziert. Angesichts des Desinteresses der Bevölkerung an der Gedenkfeier am Dicken Turm fragte ein Leser der Siegener Zeitung, dessen Brief in der Ausgabe vom 17. Dezember 1960 erschien: „Haben wir denn wirklich alles schon vergessen?“.
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen des Krieges entwickelte sich eine versöhnliche Haltung gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern. Diese neue Haltung lässt sich auch an der lokalen Presseberichtserstattung ablesen, so erschien z. B. 1978 ein Artikel, in welchem positiv über die Brieffreundschaft zwischen dem Siegener Heimatforscher Hans-Martin Flender und einem australischen Piloten berichtet wurde, der an dem Angriff auf Siegen beteiligt gewesen war.
Am 16. Dezember 1989 wurde das Streben nach Aussöhnung und Zusammenarbeit in besonderer Weise sichtbar. Unter dem Motto „Aufeinander zugehen! Partnerschaft für den Frieden! Nie wieder Krieg!„ organisierte die „Arbeitsgemeinschaft Siegerländer Friedensbewegung“ einen Schweigezug, an dem ungefähr 1000 Personen teilnahmen. Auf der anschließenden Versammlung auf dem Marktplatz vor dem Siegener Rathaus sprachen neben dem Siegener Theologieprofessor Ingo Baldermann auch Gäste aus den europäischen Partnerstädten Leeds, Ypern und Rijnsburg. Auch 1994 wurde anlässlich der fünfzigjährigen Wiederkehr des ersten Großangriffs auf Siegen ein Schweigezug organisiert, an dem etwa 4000 Personen teilnahmen.
Im Jahr 1997 kam es bei der Gedenkstunde am Dicken Turm zu einer Demonstration der „Arbeitsgemeinschaft Siegerländer Friedensbewegung“, bei der die Aufstellung einer Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus gefordert wurde. Laut einem Bericht der Siegener Zeitung erregte dieses Vorhaben jedoch Anstoß bei einigen der Anwesenden – ein Hinweis darauf, dass die Debatten um den Großangriff auf Siegen auch nach mehreren Jahrzehnten noch nicht verstummt waren.3)
Auch in anderen Zusammenhängen wurde an die Zerstörung Siegens erinnert. Die Ausstellung „Kriegsende 1945 in Siegen“, die 2004 – 2005 im ehemaligen Kaufhof-Gebäude zu sehen war, berücksichtigte den Luftangriff auf Siegen in besonderer Weise und machte der breiten Öffentlichkeit eine Vielzahl von Quellen zugänglich, darunter eigens aufgezeichnete Interviews mit Zeitzeugen. Zudem erschien eine aufwändige Dokumentation in Buchform.
Im Jahr 2008 versuchten rechtsextreme Gruppierungen, die Erinnerung an die Bombardierung Siegens für ihre politischen Zwecke zu vereinnahmen. Dagegen formierte sich unter Führung des DGB ein Aktionsbündnis mit dem Namen „Siegen für Demokratie“ und rief zu einer Gegendemonstration für Frieden und Verständigung auf. In der ganzen Stadt erinnerten Veranstaltungen an die Verbrechen und Opfer des Nationalsozialismus und ein alternativer Stadtrundgang führte entlang der Stätten des nationalsozialistischen Terrors. Erneut wurde betont, dass die Luftangriffe auf Siegen keinesfalls ‚aus dem Nichts‘ erfolgten, sondern als ein Resultat des vom nationalsozialistischen Deutschland zu verantwortenden Kriegs zu sehen sind. Etwa 3000 Bürgerinnen und Bürger nahmen an der Veranstaltung mit dem Namen „GehDenken“ teil, die seitdem fester Bestandteil der regionalen Erinnerungskultur geworden ist.
Auch der deutsche V2-Angriff auf Antwerpen rückte immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. 2009 nahm der Stadtrat fraktionsübergreifend einen Antrag der Fraktion „Die Linke“ an, dem alliierten Luftangriff auf Siegen und dem deutschen Raketenbeschuss Antwerpens künftig gemeinsam zu gedenken.4)
Das Material wurde ausgewählt, um eine multiperspektivische Betrachtung des regionalen Kriegsereignisses zu gewährleisten und das Thema der deutschen „Heimatfront“ als zentralen Faktor zur Aufrechterhaltung der Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg differenzierend in den Geschichtsunterricht einzubringen.
Zum Download der Unterrichtsmaterialien
Zerstörungen im Bereich Kölner Straße/Poststraße
Zerstörungen im Bereich Löhrtor/Obergraben/Kohlbettstraße
Löhrstraße unterhalb der Marienkirche
Poststraße mit Brunnen nach dem Angriff (Stadtarchiv Siegen)